Mehr Meer by Ilma Rakusa

Mehr Meer by Ilma Rakusa

Autor:Ilma Rakusa [Rakusa, Ilma]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783854207696
Herausgeber: Literaturverlag Droschl
veröffentlicht: 2015-12-30T16:00:00+00:00


XXXVIII. Keine Kalbereien mehr, mehr Musik

Sag, sagte Vera, du machst doch mit?

Bei was?

Beim Bubenjagen.

Ich sagte Ja, und dann Nein. Ich hatte keine Lust mehr, dem Fritz und dem Hans und wie sie alle hießen hinter Büschen aufzulauern und sie mit einem Huh! zu schrecken. Vera sagte: Du mit deinem Dostojewzki. Ich sagte: Dostojewskij. Und: Eine Laubhütte bauen, das schon. Jetzt ist aber keine Laubhüttenzeit! Schade. Vera sagte, ich sei langweilig geworden. Immer grübelst du herum! Wahrscheinlich hatte sie recht. Wahrscheinlich war ich langweilig geworden, weil mir im Alltag vieles langweilig vorkam. Die Bücher hatten mich verdorben. Nur beim Geographiespiel wirst du wach, sagte Vera. Und hatte wieder recht. Wir reisten um die Wette. Und mochten uns. Vera heißt russisch »Glaube«. Das paßte zu ihr. Sie hatte etwas Stetiges, Solides, eine Standfestigkeit, ja Unerschütterlichkeit. Sie ließ mich nicht im Stich, auch wenn sie mich oft nicht verstand. Vor allem seit »Dostojewzki«. Kleine Sonjas und dunkle Verbrecherseelen waren ihr fremd. Die überließ sie lieber mir, obwohl sie mich gefährdet sah. Sie kannte meine Phantasie, mein fast krankhaftes Einfühlungsvermögen. Und machte sich

Sorgen. Ein bißchen Eifersucht kam hinzu, denn ich steckte »dort drin« statt bei ihr.

In der Schule lernte ich Andreas kennen. Er war mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder aus Ungarn geflüchtet. Abenteuerlich. Diese Märsche und Flüchtlingskolonnen und Auffanglager. Andreas sprach mit mir Ungarisch, wenn er sprach. Lieber schwieg er. Am liebsten spielte er Geige. Ich staunte, was für Töne er seinem kleinen Instrument entlockte. Mit welcher Entschlossenheit er den Bogen führte. Sein ganzer Körper war gespannt, vollkommen bei der Sache. Bei Bartók oder Bach oder. Ein Wunderkind? Manchmal begleitete ihn sein Bruder am Klavier, auch er verblüffend begabt. Als machten ihm Läufe und Triller keinerlei Mühe, bearbeitete er die Tasten rhythmisch und schnell. Und war doch erst sechs! Ich besuchte die Geschwister an der Gloriastraße, um sie möglichst oft musizieren zu hören. Denn ihre Sprache war die Musik. Nur in der Musik konnten sie sich ausdrücken. Vielleicht war das ihr Glück. Deutsch lernten sie spielend, aber erzählen wollten sie nicht. Nicht von dort, wo sie herkamen. Nicht von der Flucht. Statt Worten wählten sie die Töne. Hier fanden sie sich zurecht. Ich dachte: Leidenschaft. Und: Was für eine Hingabe. Mein Klavierspiel glich einer Pflichterfüllung, obwohl ich es mochte. Obwohl ich die Musik liebte und mich immer zu ihr hingezogen fühlte. Andreas kitzelte meinen Ehrgeiz. Mit ihm wollte ich spielen, leidenschaftlich und selbstvergessen. Doch es vergingen Jahre, bis sich mein Wunsch erfüllte. Andreas zog weg, ging in eine andere Schule. Wir verloren uns aus den Augen. Und dann, eines Tages, fanden wir uns wieder. Wie sich herausstellte, wohnten wir unweit voneinander am linken Zürichseeufer. Das Gymnasium teilten wir nicht. Montag bis Freitag teilten wir nicht. Aber der Samstag gehörte uns, gehörte von morgens bis abends uns und der Musik. Wir erarbeiteten uns ein Repertoire, das Violinsonaten von Mozart, Beethoven, Brahms, César Franck und vielen anderen umfaßte. Auch Bach und Bartók fehlten nicht. Nochmal Takt 54. Mehr Ritardando. Und hier: plötzlich leise! Damit das anschließende Crescendo auch wirklich ein Crescendo ist.



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